ein Film von Georgia Oakley
Großbritannien 2022, 97 Minuten, englische Originalfassung mit deutschen Untertiteln
FSK 16
ein Film von Georgia Oakley
England, 1988. Die Sportlehrerin Jean sieht sich zu einem Doppelleben gezwungen: Margaret Thatcher hat mit ihrer konservativen Parlamentsmehrheit gerade Section 28 verabschiedet – ein homophobes Gesetz, das „die Förderung von Homosexualität“ verbietet. Deswegen darf in der Schule niemand wissen, dass Jean lesbisch ist – andernfalls könnte sie ihren Job verlieren. Ihre kämpferische Partnerin Vic unterstützt sie zwar, würde sich aber etwas mehr Mut von Jean wünschen. An den Wochenenden tauchen sie zusammen in das queere Nachtleben Newcastles ein. Als Jean in einer Lesben-Bar einer ihrer Schülerinnen begegnet, muss sie eine schwerwiegende Entscheidung treffen …
Packend und vielschichtig erzählt Regisseurin Georgia Oakley in ihrem Debütfilm von einer zutiefst repressiven Zeit in Großbritannien, in der die Leben von zahllosen Lesben und Schwulen durch politische Entscheidungen maßgeblich eingeschränkt oder gar zerstört wurden. Zugleich zeugt „Blue Jean“ aber auch von der widerständigen Kraft einer queeren Gemeinschaft, die sich in Opposition gegen die Eiserne Lady und ihre konservative Regierung erst richtig formierte. Bei seiner Weltpremiere in Venedig erhielt das mitreißende Drama und Zeitporträt den Publikumspreis der Sektion Giornate degli Autori. Bei den British Independent Film Awards 2022 wurde „Blue Jean“ in 13 Kategorien nominiert und mit vier Mal ausgezeichnet, u.a. mit dem Preis für die Beste Hauptdarstellerin für Newcomerin Rosy McEwen.
Mo., 18.09.2023 um 18.00 Uhr
Mo., 11.09.2023 um 20.15 Uhr
Di., 19.09.2023 um 20.40 Uhr
Mi., 20.09.2023 um 21.00 Uhr
Mi., 13.09.2023 um 19.00 Uhr
Fr., 23.09.2023 um 20.15 Uhr
Fr., 15.09.2023 um 20.00 Uhr
Mo., 18.09.2023 um 19.00 Uhr
Mo., 18.09.2023 um 20.30 Uhr
Mi., 20.09.2023 um 20.15 Uhr
Mi., 20.09.2023
So., 17.09.2023 um 20.30 Uhr
Di., 26.09.2023 um 20.00 Uhr
Mo., 04.09.2023 um 19.00 Uhr
Mo., 25.09.2023 um 21.15 Uhr
Mo., 18.09.2023 um 20.15 Uhr
Mo., 04.09.2023 um 19.00 Uhr
Do., 21.09.2023 um 20.00 Uhr
Mi., 27.09.2023 um 21.00 Uhr
Mo., 25.09.2023 um 20.30 Uhr
Di., 12.09.2023 um 21.00 Uhr
Fr., 29.09.2023 um 21.15 Uhr
Mi., 13.09.2023 um 21.00 Uhr
Mo., 11.09.2023 um 20.45 Uhr (Anhell69)
Mi., 21.09.2023 um 20.15 Uhr
Mi., 18.09.2023 um 19.00 Uhr
Fr., 01.09.2023 um 20.00 Uhr
Do., 21.09.2023 um 20.00 Uhr
Di., 12.09.2023 um 19.00 Uhr
Do., 27.09.2023 um 21.00 Uhr
Fr., 29.09.2023 um 20.00 Uhr & Sa., 30.09.2023 um 18.00 Uhr
Mo., 18.09.2023 um 20.15 Uhr
Mo., 25.09.2023 um 20.30 Uhr
Wie kam „Blue Jean“ als Projekt zustande?
Hélène Sifre: Georgia und ich haben uns vor ungefähr fünf Jahren bei einem Kaffee kennengelernt, nachdem eine gemeinsame Freundin uns vorgestellt hatte. Es war unglaublich zu sehen, wie sehr unsere Geschmäcker übereinstimmten. Wir verbrachten das ganze Treffen damit, über all unsere Lieblingsfilme und unsere gemeinsamen Ambitionen als Filmemacherinnen zu plaudern: vielfältige, weibliche Geschichten über relevante Themen zu erzählen, aber auf ungewöhnliche Weise. Wir wussten nicht, was wir genau machen wollten. Aber wir wussten, dass wir zusammen unser Debüt machen wollten.
Georgia Oakley: Hélène und ich haben 2018 mit der Entwicklung der Geschichte begonnen. Ich habe einfach recht planlos nach interessanten Dingen im Internet gesucht und bin auf einen Zeitungsartikel über die Frauen gestoßen, die sich von der Galerie des House of Lords abgeseilt hatten. Das war ein ziemlich erstaunliches Bild, wie sie über den Balkon sprangen – das hat mich irgendwie fasziniert. Aber mich interessierte mehr die Tatsache, dass ich nicht wusste, was Section 28 war. Also fing ich an, dazu zu recherchieren. Ich hatte keine Ahnung, dass es ein Gesetz war. Als ich das herausfand und mir klar wurde, dass ich zur Schule gegangen bin, während es in Kraft war, begannen die Dinge einen Sinn zu ergeben: warum es damals keine Vorbilder gegeben hatte, warum keine:r meiner Lehrer:innen und kein:e einzige:r Schüler:in an meiner Schule geoutet war. Es war eine echte Entdeckung! Und mir war klar, dass wohl auch die meisten anderen Leute, die damals zur Schule gegangen waren, nichts von Section 28 gewusst haben. Wir waren einfach nur ein bisschen zu jung, um uns richtig zu engagieren.
Dann war ich in einem Meeting bei der BBC und sie haben mich nach Dingen gefragt, an denen ich gerade arbeitete. Ganz am Ende des Treffens hat unsere ausführende Produzentin Eva Yates gefragt: „Hast Du sonst noch etwas?“ Und ich habe geantwortet: „Nicht wirklich, aber schau mal … es könnte eine Geschichte über eine Lehrerin geben, die während der Zeit von Section 28 arbeitet.“ Eva hat daraufhin gesagt: „Ich glaube, das ist deine Geschichte. Mach daraus etwas.“ Ich weiß nicht, warum sie das Gefühl hatte, dass das etwas ist, was ich tun musste, aber es war so. Das war der Anfang. Ich glaube, wir hatten dann zwei Wochen, um rechtzeitig zum iFeatures-Termin eine Gliederung zu erstellen. Und während dieser Zeit fanden wir Berichte aus erster Hand – Interviews, die in den 1990er Jahren mit Frauen geführt wurden, die ähnliche Erfahrungen wie Jean im Film in den späten 1980er und frühen 90er Jahren gemacht hatten.
HS: Ich denke, was uns zu großartigen Partnerinnen für dieses Projekt gemacht hat, ist die Tatsache, dass wir uns beide auf persönlicher Ebene sehr tief mit der Geschichte verbunden gefühlt haben. Damals war ich in einer ähnlichen Phase wie Jean – nachdem ich mich kurz zuvor geoutet hatte, versuchte ich, mich mit dieser neuen Identität auseinanderzusetzen. Ich sah, wie plötzlich alle zu denken schienen, dass mich das definierte. Georgia hatte vor ein paar Jahren die gleiche Erfahrung gemacht, und wir hatten beide Tag für Tag mit diesen subtilen und dennoch schmerzhaften Mikroaggressionen zu kämpfen, die der Film hervorzuheben versucht. Ich denke, es ist diese tiefe Verbindung, die wir beide hatten, die es uns ermöglicht hat, eine emotionale Verbindung mit den Lehrer:innen aufzubauen, die wir während des Rechercheprozesses getroffen haben. So haben sie sich uns geöffnet, was der Geschichte enorm zu Gute gekommen ist.
GO: Ich hatte schon entschieden, dass Jean eine Sportlehrerin oder eine Schauspiellehrerin sein muss – eine Lehrerin, die nicht nur vor einer Klasse steht. Mich interessierte die Art der Körperlichkeit. Auch die Frage, wie es für eine Lehrerin wäre, deren Arbeit sich mit Körpern befasst – und wie das zusätzliche Belastungen mit sich bringen könnte. Als ich online recherchierte, fand ich diese erstaunlichen Frauen. Wir fuhren durch das ganze Land und interviewten sie. Dadurch und durch das Eintauchen in unsere eigenen Erfahrungen rund um internalisierte Homophobie haben wir rechtzeitig zur Frist, die zwei Wochen nach jenem ersten Treffen war, etwas zusammengestellt. Die Geschichte hatte sich nicht wirklich verändert. Es ging immer um eine Lehrerin, deren Leben in den Blick genommen werden sollte, anstatt sich auf das Gesetz selbst und den größeren politischen Prozess zu konzentrieren. Ich wollte immer das Leben und die Entscheidungen einer Person hinterfragen.
Während sich historische Narrative in der Regel auf Aktivist:innen konzentrieren, repräsentiert Jean die Menschen, die nicht in der Lage oder bereit waren, ihre Stimme aus Protest zu erheben?
GO: Ja. Wir trafen nicht nur Lehrer:innen – wir trafen Hunderte von Leuten, Journalist:innen, Aktivist:innen, und auch die Personen, die sich im House of Lords abseilten … Es war eine ganz andere Erfahrung, mit ihnen zu sprechen, als mit den Lehrer:innen. Diese konnten sich nicht an jenem erstaunlichen Aktivismus beteiligen, der von dem eingeführten Gesetz ausgelöst wurde. Die meisten Leute, mit denen wir sprachen, sagten: „Section 28 war eine schreckliche Sache, aber als Resultat davon sind wir alle zusammengekommen, und dies ist passiert und das ist passiert …“ Ich wollte die Geschichte so erzählen, dass es zumindest einige Referenzen darauf gab, was vor sich ging, und dass das Publikum ein gewisses Verständnis dafür bekam, dass es Hoffnung gab. So kamen die Frauen aus der Kneipe und der Coop in den Film. Ich wollte zeigen, dass jemand wie Jean an diesen Vorgängen beteiligt sein wollte, aber aufgrund des öffentlichkeitswirksamen Aspekts ihres Jobs nicht dazu in der Lage war. Alle Lehrer:innen, mit denen wir gesprochen haben, sagten in etwa dasselbe: „Diese Sache hat mein Leben ruiniert, aber ich konnte nicht dagegen marschieren, weil ich es nicht riskieren konnte, von Fernsehkameras gesehen und in der Schule geoutet zu werden.“
Glauben Sie, dass Lesben als besonders unruhestiftend oder subversiv angesehen wurden?
GO: Absolut. Und geschlechtslos zugleich. Ich würde sagen, dass es diese Tendenz damals gab und immer noch gibt. Als wir anfingen, gab es die Figur der Viv noch nicht. Als wir die Geschichte dann entwickelten, hielt ich es für interessant, eine lesbische Beziehung zu zeigen, die in vollem Gange ist und sich nicht von anderen Liebesbeziehungen unterscheidet, aber plötzlich durch verschiedene Dinge bedroht wird. Ich glaube, dass ich so etwas noch nicht oft gesehen habe. Wir sehen viele Girl-Meets-Girl-Romanzen und Geschichten darüber, etwas zu wollen, jemanden zu verletzen und nicht in der Lage zu sein, etwas bzw. jemanden zu bekommen. Aber ich habe nicht das Gefühl, dass wir wirklich jemals die andere Seite sehen: eine funktionierende Beziehung. Es gibt eine zusätzliche Ebene des Schweigens um lesbische Frauen.
Wie haben Sie Rosy McEwen gefunden, die als Jean so bemerkenswert ist?
HS: Unsere wundervolle Casting-Direktorin Shaheen Baig hat uns einige Tapes für die Rolle der Jean geschickt. Als es darum ging, darüber zu sprechen, sagten Georgia und ich, es gäbe nur eine mögliche Option, trauten uns aber nicht, den Namen zu nennen! Schließlich sagten wir es beide gleichzeitig: Rosy. Ihr Tape hat mich zu Tränen gerührt. Es bestätigte mir, dass das Drehbuch etwas ganz Besonderes war und dass sie die Richtige und die einzige Person war, die es zum Leben erwecken konnte.
GO: Ja, Rosy war genau die Richtige. Der Casting-Prozess war für sie ziemlich einfach: Sie schickte ein Tape ein, und ich wusste einfach, dass sie Jean war. Sie hatte diese erstaunliche Stille und war in der Lage, alles zu channeln, was ich geschrieben hatte – all diese Dinge, die unter die Oberfläche stattfanden. Sie konnte sehr ruhig bleiben und mit sehr wenig sehr viel erreichen.
HS: In Rosys Darbietung lag etwas Geheimnisvolles, das wir nirgendwo sonst finden konnten – ein strenges Äußeres, ein großartiges „Pokerface“, aber auch eine unglaubliche Wärme. Rosy konnte uns in ihre Welt entführen und dem Publikum ein Skript mit sehr vielen innerlichen Vorgängen zugänglich machen. Und genau das wollten wir.
Wie wichtig war ihre Dynamik mit Kerrie Hayes, die Jeans Partnerin Viv spielt?
GO: Das hat mich am nervösesten gemacht. Ich war zuversichtlich, dass ich meine Jean finden würde, und ich war zuversichtlich, dass ich meine Viv finden würde – aber man weiß nie, wie es mit der Chemie zwischen den Figuren aussieht. Wir hatten Rosy etwa ein Jahr vor den eigentlichen Dreharbeiten gecastet. Dann gab es den zweiten Lockdown in Großbritannien und wir hatten eine lange Pause, bevor Kerrie gecastet wurde. Aber die Viv auf der Leinwand ist genau die Viv, die ich geschrieben hatte. Ich sah sie immer mit einer harten Schale und einem weichen Kern. Und Kerrie ist einfach unglaublich lustig und zart und warmherzig und all das, wie ich mir Viv vorgestellt habe. Ihre Tattoos und alles andere könnten auf jemanden hindeuten, der viel härter ist, aber ich habe sie mir immer warmherzig und liebenswert vorgestellt und dass alle sie lieben würden.
Ich war nicht nur daran interessiert, dass Jean ihre eigene Identität erkundet, sondern auch daran, dass sie die Neue in dieser Gruppe von Frauen ist. Ich war damals diese Person in der Gruppe von Lesben, mit der ich abhing. Ich hatte das Gefühl, dass es eine sehr spezifische Erfahrung war: Was auch immer die Außenwelt aus Dir macht, in dieser Welt bist du einfach nicht lesbisch genug! Du bist zu neu! Du bist zu spät! Ich wollte immer, dass das die Dynamik ist, und ich hatte das Gefühl, dass sich viele Leute damit identifizieren können. Zwischen Kerrie und Rosy gibt es einen Altersunterschied; aber als Menschen hatten sie einfach die Chemie und die Verbindung, die ich gesucht habe. Es war offensichtlich.
Gleich nach den Proben nahm ich sie mit in eine Gaybar in Newcastle. Irgendeine Frau fing an, Rosy anzusehen, und Kerrie war plötzlich ganz aufgeregt. Ihre Körperhaltung änderte sich: Sie beschützte ihre Jean. Es war völlig natürlich, es ist mit den beiden einfach passiert. Sie wurden zu diesen zwei Figuren, und sie haben das während der gesamten Drehzeit tatsächlich nicht abgeschüttelt. Wenn ich sie jetzt sehe, bin ich irgendwie überrascht, dass sie nicht mehr Jean und Viv sind!
HS: Als wir drehten, hat uns die Chemie zwischen Rosy und Kerrie tatsächlich überrascht. Ursprünglich war es so geschrieben, dass sich die Figuren auf einem schwierigen Weg befanden. Aber die Chemie zwischen Rosy und Kerrie war so unbestreitbar, dass ihre Liebesgeschichte fast alles dominierte! Offensichtlich ist es das, worum es in der Geschichte auch geht und worauf Section 28 den größten Einfluss hatte, wie uns eine der Sportlehrerinnen, die uns beraten hat, erzählte: das Liebesleben. Aber wir mussten es in der Montage schaffen, eine Balance zwischen Jeans Liebesbeziehung zu Viv und den Auswirkungen ihrer Entscheidungen auf Lois‘ Schicksal zu wahren – dem anderen großen Konflikt im Film. Kerrie und der Rest der Gang bringen allerdings auch viel Humor und Wärme in diese Welt und zeigen uns eine Seite, die wir zuvor selten in LGBT-Filmen gesehen haben. Oft konzentrieren sich diese Filme auf unterdrückte Figuren, die sich ausschließlich innerhalb einer heterosexuellen Welt entwickeln und bewegen.
Lucy Halliday, die die aufgewühlte Schülerin Lois spielt, ist eine totale Newcomerin – und sie hinterlässt auf der Leinwand einen großen Eindruck.
GO: Lucy hatte etwas Theatererfahrung, aber ja: Sie war sehr jung und noch nie von zu Hause weg. Es war eine wirklich neue Erfahrung für sie. Das war irgendwie perfekt, obwohl wir das nicht planen konnten – ich fand sie einfach brillant. Sie hatte diese Essenz, dieses Feuer, das sie entzünden und zum Leuchten bringen konnte. Das Schwierige an Lois war diese Balance zwischen Verletzlichkeit und Tapferkeit. Sie hat diese harte Attitüde, aber darunter eine ernsthaft fragile Verletzlichkeit. Das war ziemlich schwer zu kommunizieren, was mir beim Casting auch sehr bewusst war. Ich war von Lucy völlig überzeugt.
HS: Lucy hat uns bei ihrem Vorsprechen total umgehauen. Sie war die einzige junge Schauspielerin, die es schaffte, Rosy herauszufordern und ihr beinah ein unangenehmes Gefühl zu geben – genau was wir wollten. Sie ist ein echtes Naturtalent, und sie hat die Zähigkeit und Sensibilität von Lois wunderbar gemeistert. Es war sehr emotional zu sehen, wie sie als junge Schauspielerin von ihren älteren Kolleginnen betreut wurde. Ich hoffe, sie wird noch große Erfolge haben; sie ist ein echter Diamant.
Waren die regionale Herkunft und die Klassenzugehörigkeit der Figuren für die Geschichte von ähnlicher Bedeutung wie ihre sexuelle Identität?
GO: Die Frauen, die wir interviewt haben, kamen aus dem ganzen Land. Es gab ein großes Nord-Süd-Gefälle, auch ein Stadt-Land-Gefälle. Wir konzentrierten uns mehr auf die Frauen, die an staatlichen Schulen im Norden arbeiteten, weil es so klare Parallelen in ihren Geschichten gab – die Vorstellung, dass sie eine Schülerin in der örtlichen Bar treffen könnten, weil es nur eine Handvoll Bars dort gab. Es macht die Erfahrung einfach sehr viel prägnanter.
Ich wollte, dass Jean eine ziemlich neutrale Person ist. Sie ist eher Middle Class. Zu ihrer Familie hat sie noch Kontakt. Die meisten Frauen, mit denen wir bei unserer Recherche gesprochen haben, wurden von ihren Familien verstoßen. Viele von ihnen waren aus der Stadt, in der sie aufgewachsen waren, geflohen und hatten sich ein ganz neues Leben aufgebaut. Ich wollte die Geschichte von einer Person erzählen, die das nicht getan hat – die sich nicht zu weit von dem entfernen wollte, was sie kannte, und die nicht wollte, dass ihr Leben politisch ist. Um in ihre Geschichte einzutauchen, half es mir, einige dieser anderen Dinge um sie herum zu neutralisieren – sie Seite an Seite mit Frauen zu stellen, die andere Erfahrungen gemacht haben, und zu zeigen, dass sie in vielerlei Hinsicht wirklich Glück hat.
War es während der Entwicklung der Story jemals ein Thema, dass sich Jean moralisch nicht immer vorbildlich verhält?
GO: Wir hatten wirklich Glück: Unsere ausführende Produzentin Eva Yates dachte über „sympathische“ Frauen genauso wie wir und versuchte zu keinem Zeitpunkt, uns zu zwingen, eine Geschichte über eine Person zu erzählen, die alles richtig macht. Wir fanden es gut, dass Jean ein bisschen eine Antiheldin war. Schließlich sehen wir uns auch Filme über männliche Figuren an, die ständig schreckliche Dinge tun oder schlechte Entscheidungen treffen, und das stellen wir nicht in Frage. Das soll nicht heißen, dass es niemanden gab, der das Drehbuch gelesen und Jeans Moral und das, was sie tut, kritisch gesehen hat. Aber genau das war für mich interessant.
Eine der Sportlehrerinnen erzählte uns eine Geschichte von einem Mädchen, das sie in der Schule aufgesucht hatte und verlegen sagte, dass sie glaube, lesbisch zu sein. Und die Lehrerin sagte der Schülerin nur: „Nein, bist du nicht. Du bist nicht lesbisch, und selbst wenn du es bist, sei es nicht.“ Und so hat sie das Kind dann einfach stehen lassen. Dreißig Jahre später wird diese Frau immer noch von ihrem damaligen Verhalten verfolgt. Sie sagte, es vergehe kein Tag, an dem sie nicht an dieses Mädchen denke und sich fragte, was wohl mit ihm passiert sei. Und das war nicht nur in diesem Fall so. Alle Frauen, mit denen wir gesprochen haben, hatten ähnliche Geschichten. Weil sie damals einfach nicht wirklich verstanden haben, was mit ihnen geschah. Wir haben jetzt die Sprache, um über verinnerlichte Homophobie und Mikroaggressionen zu sprechen – all diese Dinge sind jetzt im kollektiven Bewusstsein –, aber zu der Zeit wussten sie es einfach nicht. Queere Menschen wachsen oft damit auf, sich selbst zu hassen, auch wenn sie sich dessen nicht bewusst sind.
Einmal sprachen wir mit einer anderen Lehrerin bei einem Kaffee und wir fragten: „Was denken Sie: Wie hoch war der emotionale Preis für Sie?“ Und ich werde nie vergessen, was geschah: Eine selbstbewusste, kluge, coole, gesammelte Frau brach plötzlich in diesem Café um 9 Uhr morgens in Tränen aus. Sie brauchte eine Weile, um sich zu erholen. Und dann erzählte sie uns, dass die Antwort ihre Beziehungen seien: Immer wenn sie eine Frau kennengelernt hatte, die sie mochte, sich in sie verliebte und dachte, jetzt die richtige Person gefunden zu haben, sei jedesmal die Beziehung aus Gründen, die sie einfach nicht verstand, zerbrochen. Das war genau ihr Thema. Sie sagte: „Ich habe dreißig Jahre Therapie hinter mir, und ich beginne zu verstehen, warum – und auf die Dinge durch eine andere Brille zurückzublicken.“ Sie begann zu begreifen, was mit ihr passiert war. Aber zu der Zeit wusste keine dieser Frauen wirklich, was passierte – sie waren sich dessen nicht bewusst. Das war es, was mich an Jean interessierte. Sie trifft schlechte Entscheidungen, aber sie ist sich dessen nicht bewusst. Was in unserer Geschichte in 90 Minuten passiert – die Entwicklung, die wir bei Jean miterleben – mag sich bei den Frauen, mit denen wir gesprochen haben, im Laufe von zehn Jahren ereignet haben. Mich interessiert, warum Menschen die Dinge tun, die sie tun. Das sind die Geschichten, die mich anziehen – wo es kein „Und dann war alles gut!“ gibt.
Der Film hat einen bewegenden und frischen Soundtrack und einen wunderschönen Score von Chris Roe. Wie haben Sie sich für den Sound des Films entschieden?
GO: Von Anfang an war viel Musik im Drehbuch. Als ich 2018 den ersten Entwurf schrieb, habe ich eine Playlist auf Spotify zusammengestellt. Ich habe Tracks ausgewählt, die eine bestimmte Atmosphäre hervorriefen. Da es kein Dokumentarfilm ist, habe ich nicht viel über die Top-Ten-Popsongs der damaligen Zeit recherchiert. Sicher werden die Leute nicht bei jedem unserer Songs automatisch sagen können, wann er herausgekommen ist, abgesehen von New Order – es ist einfach die Musik, die ich liebe. Das hängt auch damit zusammen, wie wir uns dieser Zeit insgesamt angenähert haben: Die Idee war, den Film wirklich so aussehen zu lassen, als wäre er aus dieser Zeit – und nicht wie eine selbstreflexive Reminiszenz an die 1980er Jahre. Es gibt all diese brillanten Serien und Filmen, die diesen Look wirklich perfektioniert haben, z.B. „Stranger Things“ und „It’s a Sin“. Aber wenn man Dokumentarfotografien oder Filme aus dieser Zeit sieht, sind da nicht unbedingt nur helle Farben und Denim-Jacken. Für die Musik, die Kostüme, den Stil insgesamt und die Ästhetik haben wir uns also von klassischen Filmen der damaligen Zeit inspirieren lassen. Viele davon sind aus Europa, einige aus den USA. Ich wollte nicht unbedingt ein Kitchen-Sink-Drama machen – ich denke, meine Sensibilität ist sowieso etwas europäischer. Wir hatten einem französischen Kameramann. Und bei dem Score habe ich eng mit dem großartigen Chris Roe („After Love“) zusammengearbeitet, mit dem Ziel, etwas sehr Gegenwärtiges zu kreieren – die Musik sollte nicht zu aufdringlich, aber durchweg da sein als Indikator für Jeans Gemütszustand.
HS: Georgia fühlt sich sehr zum europäischen Kino hingezogen, und als französische Produzentin (obwohl in London ansässig) teile ich viele filmische Referenzen mit ihr. Es war zum Beispiel kein Thema, einen französischen Kameramann zu beauftragen. Und ich hoffe, dass mein ganz natürliches Verständnis von Georgias Vision ihr geholfen hat, diese auf der Leinwand umzusetzen und sich dabei von einem womöglich traditionelleren britischen Kitchen-Sink-Ansatz bzgl. Porträts und Sozialdramen zu befreien.
GO: Wir haben versucht, etwas zu nehmen und es in gewisser Weise zu überhöhen. Es soll sich nicht ganz real anfühlen, wir wollten eher ein Gefühl wecken.